„Es ist für Augenblicke, als würde die Schale der Erde unter einem zu Kristall...“ – ‚Plötzlichkeit‘ als Konturierung des Augenblicks in Hugo von Hofmannsthals Aufzeichnungen und Tagebüchern
DOI:
https://doi.org/10.18778/2196-8403.2009.14Schlagworte:
Hugo von Hofmannsthal, Ästhetizismus, Aufzeichnungen, Tagebücher, Augenblick, narrative Struktur, Nietzsche, Karl Heinz Bohrer, Schreibpraxis, "Erlebnis", PlötzlichkeitAbstract
Hugo von Hofmannsthal führt in den Aufzeichnungen eine intensive Auseinandersetzung mit dem Augenblick des Ästhetizismus, dessen Formlosigkeit als künstlerisches Gestaltungsproblem begriffen wird. Er versucht, dem ungreifbar vorüberziehenden Zeitpunkt auf mehrerlei Art und Weise eine prägnantere Augenblicksvorstellung entgegenzusetzen. Die in Aufzeichnungen und Tagebüchern formulierten Reflexionen über die aus dem zeitlichen Kontinuum herausgehobenen Momente mit epiphaner Struktur, in denen der Kontakt mit den Dingen der Außenwelt die Ganzheit des Lebens aufschimmern lässt, korrespondieren mit den in Ein Brief oder dem Gespräch über Gedichte dargelegten Überlegungen. In Hofmannsthals Aufzeichnungen und Tagebüchern erscheint der Augenblick vorwiegend als aphoristisch zugespitzte Reflexion. In den Tagebüchern werden in einigen Eintragungen Augenblicke mit epiphanem Charakter als erlebt geschildert, wobei der Augenblick zum Element narrativer Strukturierung wird. Sie sind der Ausgangspunkt einer literarischen Gestaltung des im Sinne Nietzsches emphatisch verstandenen, nur in Augenblicken erfahrbaren ‚Lebens‘, in denen das Subjekt seine Identität auf dem Wege der Entgrenzung wiedergewinnt. Insofern scheint es sinnvoll, sich bei der Analyse der Hofmannsthalschen Tagebücher innerhalb der Terminologie Karl Heinz Bohrers zu bewegen. Der Augenblick als Moment plötzlichen Erschreckens scheint für Hofmannsthals Schreibpraxis besonders produktiv zu sein. Gerade dieses reine, die Gattungsgrenzen aufsprengende und literarisch schwer zu vermittelnde Erlebnis stellt für den Autor eine Herausforderung dar, wie Bohrer bereits für die Erzählungen Hofmannsthals nachgewiesen hat. Auch in Gedichten wie Erlebnis steht die literarische Gestaltung des Schreckens über die eigene Haltlosigkeit angesichts einer nicht mehr zu erfassenden Lebenskontinuität im Vordergrund. Der Augenblick als Blick auf die Dinge der Außenwelt – auch der Blick auf sich selbst von außen – vermittelt den Schrecken des vom ‚Leben‘ abgetrennten, außerhalb Stehenden, der ‚Leben‘ nur noch als Abwesenheit von Kontinuität und an den äußersten Grenzen sprachlicher Vermittlung erfahren kann.
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