Fehlzeiten des 20. Jahrhunderts. Narrative Substitute bei HERTA MÜLLER und BIRGIT WEYHE

Autor/innen

  • Gudrun Heidemann Universität Łódź

DOI:

https://doi.org/10.18778/2196-8403.2020.04

Schlagworte:

HERTA MÜLLER, BIRGIT WEYHE, Comic, Nachgeneration, Familiengeschichte, Tabus

Abstract

Mit zunehmendem Abstand zum 20. Jahrhundert geraten gerade Zeitlücken in den erzählerischen Fokus und werden als solche thematisiert. Exemplarisch wird an HERTA MÜLLERS Roman Atemschaukel und dessen Entstehung gezeigt, wie Leerstellen im Familiengedächtnis später durch Notizen von und Gespräche mit Oskar Pastior, der wie MÜLLERS Mutter sowjetischer Lagerhäftling war, gefüllt werden. Dies ermöglichte der Autorin, das heimische Lagerzeittabu literarisch ‚stellvertretend‘ durch den fiktiven Schreiber Leo Auberg zu kompensieren. BIRGIT WEYHE hingegen füllt in ihrem Comic Im Himmel ist Jahrmarkt die Fehlzeiten ihrer Familiengeschichte vor allem durch verbal-piktorale Erfindungen, welche gleich zu Beginn des Comics expliziert werden. Darin werden dann Zeitlücken ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts derart visualisiert und verbalisiert, dass die Zuverlässigkeit der Narration stets ambivalent bleibt. Der Vergleich beider Werke zeigt Unterschiede wie Ähnlichkeiten im literarischen Umgang mit Fehlzeiten im Familiengedächtnis, aus denen in beiden Fällen ein narratives Substitut hervorgeht.

Autor/innen-Biografie

Gudrun Heidemann, Universität Łódź

Dr. phil. habil. – Professorin am Institut für Germanistik der Universität Łódź. Studium der Literaturwissenschaft, Slavistik und Philosophie in Bielefeld, Promotionsstipendiatin des Landes NRW, DAAD und der DFG in Bochum und Bielefeld; ebenda Dissertation über russische Exilprosa der 1920er Jahre (Bielefeld 2005), 2016 Habilitation an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg mit der Studie Sehsüchte. Fotografische Rekurse in Literatur und Film (Paderborn 2017). Komparatistische Publikationen zur Gegenwartsliteratur und zur Wechselwirkung von Literatur und Medien. Zuletzt erschienen: #Engagement. Literarische Potentiale nach den Wenden. 2 Bände. Hrsg. mit JOANNA JABŁKOWSKA, ELŻBIETA TOMASI-KAPRAL. Berlin u.a. 2019f.; Eingeblendete NS-Opfernarrative: Generationsübergreifende Latenz-Effekte in Literatur (Rymkiewicz, Wodin) und Comic (Hoven). In: EVA BINDER ET AL. (eds.): Opfernarrative in transnationalen Kontexten. Berlin 2020, S. 21-48; „Treten, Schritte, Sehen: klack, ein Foto!: Gegenwart eingefroren.“ Arkadien (sex)touristisch reloaded in Rolf Dieter Brinkmanns Rom, Blicke. In: JOANNA JABŁKOWSKA, KAROLINA SIDOWSKA (eds.): Et in Arcadia ego. Rom als deutscher Erinnerungsort. Berlin 2020, S. 177-195.

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Downloads

Veröffentlicht

2020-12-30

Zitationsvorschlag

Heidemann, G. (2020). Fehlzeiten des 20. Jahrhunderts. Narrative Substitute bei HERTA MÜLLER und BIRGIT WEYHE. Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen, 73–90. https://doi.org/10.18778/2196-8403.2020.04

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