Thematischer Schwerpunkt 2024 - Postmigrantisch. Literatur – Kultur – Bildung

2023-12-10

Der im deutschen Sprachraum entwickelte und noch vergleichsweise junge Begriff des Postmigrantischen scheint ein interessantes Konzept, um einem grundlegenden Problem der Postcolonial Studies im spezifisch deutschen Kontext zu begegnen, das darin besteht, dass eine deutschsprachige postkoloniale Literatur in der Regel von ‚weißen‘ Autor*innen verfasst wird. Durch die zeitlich und räumlich im Vergleich zu Großbritannien, Spanien oder Frankreich begrenzte Kolonialgeschichte gibt es in der deutschsprachigen Literatur quasi keine Stimmen, die ein postkoloniales Writing Back aus den ehemals kolonisierten Ländern in deutscher Sprache betreiben könnten. Und anders als in Großbritannien oder Frankreich ist die Migration nach Deutschland seit den 1960er Jahren nicht aus den ehemaligen Kolonien erfolgt, sondern aus ganz anderen Ländern, zunächst vor allem Südeuropa und der Türkei, später auch Nordafrika und dem sog. Nahen Osten. Damit stellen sich Fragen von Zugehörigkeit im deutschen Kontext noch einmal anders als unter den Vorzeichen eines ‚Commonwealth of Nations‘ oder einer ‚Grande Nation‘, deren nationalen Mythen durch die Aufnahme von ‚Landeskindern‘ aus ihren Imperien nicht infrage gestellt werden.

Die junge postmigrantische Literatur, die in Deutschland derzeit breit rezipiert wird, zielt auf eine Normalisierung und Integration von Migrationserfahrungen in die dominanten Narrative gesellschaftlicher Selbstbeschreibung ab – sie verändern die Basiserzählung der Bundesrepublik, wollen ein Teil und nicht mehr ein Anderes von ihr sein. Dies ist der gleichsam utopische Gehalt des Begriffs postmigrantisch:1 das Migrationsparadigma hinter sich zu lassen und zu echter Anerkennung und Gleichheit zu gelangen. Zugleich wird der Begriff von migrantisierten und rassifizierten Akteur*innen auch aktivistisch, kämpferisch und in deutlicher Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft definiert (Max Czollek). Weitere Autor*innen, deren Bücher zum Teil in großen Verlagen erscheinen und mit Preisen bedacht werden (etwa von Sharon Dodua Otoo oder Fatma Aydemir), werden als postmigrantisch kategorisiert, auch wenn sie selbst den Begriff nicht verwenden oder sich davon abgrenzen. Ihre Literatur reagiert auf die Strategien des Weghörens und des Silencings marginalisierter Stimmen in der Mehrheitsgesellschaft und hat – nach Vorläufern wie Kanak Attak (BECKER 2000/vgl. ZAIMOĞLU 1997) oder im deutschen Rap der Jahrtausendwende – in der Literatur ein Medium gefunden, sich Gehör zu verschaffen.

Neben den Geschichten vom Ankommen in einem fremden Land zeigen sich postmigrantische Schreibweisen auch in der kritischen Auseinandersetzung mit den eigenen Eltern und der Abkehr von gesellschaftlich erwünschten Rollenzuschreibungen und Assimilationsbemühungen (vgl. SMECHOWSKI 2017). Mehrsprachigkeit, Minderheitensprache/n und Sprachmischungen sind zudem Gegenstand einer der kulturübergreifenden Verständigung verpflichteten interkulturellen Literaturdidaktik in Abgrenzung zur sog. Migrantenliteratur (vgl. SCHIEWER 2018), die interkulturelles Lernen als Form von interkultureller (Aus-)Handlungskompetenz versteht. Hybriditätskonzepte, die sprachliche und kulturelle Vielfalt als gesellschaftliche Normalität und Diversität als Bereicherung ansehen – ausgehend von einem heterogenen, mehrwertigen Verständnis von Kultur und kulturellen Räumen als dynamischen Netzwerkstrukturen abseits von nationalen Kategorien (vgl. ALTMAYER / BIEBIGHÄUSER / HABERZETTL / HEINE 2021) – können die Lehrer*innenausbildung, insbesondere bei der Vermittlung von Deutsch als Zweitsprache an deutschen Schulen bereichern und zu mehr Bildungsgerechtigkeit führen (vgl. FÜRSTENAU 2012). Dazu gehört auch die Sensibilisierung für Mehrsprachigkeitspraxen in Institutionen (auch in Grenzregionen, vgl. POLZIN-HAUMANN 2020), die vom polyglotten Dialog, über Sprachmischungen bis hin zum Translanguaging reichen. Die neueren, auf postkolonialen Theorien basierenden Impulse einer postmigrantischen Literatur können so auch in nicht-literarischen Diskursen, z.B. in den Bildungswissenschaften, Anstoß sein, um der Hierarchisierung von Sprachen und defizitorientierten Ansätzen in mehrsprachigen Bildungskontexten entgegenzutreten (vgl. bereits GOGOLIN 1994). Das Motto: „Mehrsprachigkeit: vom Störfall zum Glücksfall“ (TRACY 2014:13) kann hier richtungsweisend sein.

LITERATUR
ALTMAYER CLAUS / BIEBIGHÄUSER KATRIN / HABERZETTL STEFANIE / HEINE ANTJE (eds.) (2021): Handbuch Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Kontexte – Themen – Methoden. Berlin.
BAUMANN, GERD / SUNIER, THIJL (1995): Post-Migration Ethnicity, Amsterdam: Het Spinhuis Publishers.
BAZYAR, SHIDA (2021): Drei Kameradinnen. Roman. Köln.
BRONFEN, ELISABETH / MARIUS, BENJAMIN / STEFFEN, THERESE (eds.) (1997): Hybride Kulturen. Beiträge zur angloamerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen.
CASTRO VARELA, MARÍA DO MAR / DHAWAN, NIKITA (2015) (zuerst 2005): Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld.
CHA, KYUNG-HO/OHOLI, JEANNETTE/EL HISSY, MAHA/ARAS, MARYAM: Postmigration Reloaded. Ein Schreibgespräch. In: PS: Anmerkungen zum Literaturbetrieb / Politisch Schreiben: www.politischschreiben.net/ps-7/postmigration-reloaded-ein-schreibgesprch (11.11.2023).
CRAMER, RAHEL / SCHMIDT, JARA / THIEMANN, JULE (2023): Postmigrant Turn. Postmigration als kulturwissenschaftliche Analysekategorie. Berlin.
EL-TAYEB, FATIMA (2016): Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft, Bielefeld.
FOROUTAN, NAIKA (2019): Die postmigrantische Gesellschaft. Ein Versprechen der pluralen Demokratie. Bielefeld.
FOROUTAN, NAIKA / KARAKAYALI, JULIA / SPIELHAUS, RIEM (eds.) (2018): Postmigrantische Perspektiven. Ordnungssysteme, Repräsentationen, Kritik. Frankfurt a.M. / New York.
FÜRSTENAU, SARA (2012): Interkulturelle Pädagogik und Sprachliche Bildung. Wiesbaden.
GOGOLIN, INGRID (1994): Der monolinguale Habitus der plurilingualen Schule. Münster.
HILL, MARC / YILDIZ, EROL (eds.) (2018): Postmigrantische Visionen. Erfahrungen – Ideen – Reflexionen. Bielefeld.
KRIFKA, MANFRED / BŁASZCZAK, JOANA / LEßMÖLLMANN, ANNETTE / MEINUNGNER, ANDRÉ / STIEBELS, BARBARA / TRACY, ROSEMARIE / TRUCKENBRODT, HUBERT (eds.) (2014): Das mehrsprachige Klassenzimmer. Über die Muttersprachen unserer Schüler. Berlin.
MIGNOLO, WALTER D. (2012): Epistemologischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität. Wien / Berlin.
POLZIN-HAUMANN, CLAUDIA (2020): „Die Nachbarn verstehen“ … in der grenzüberschreitenden Berufsbildung. Sprachenpolitik, Praktiken und Projekte in der Großregion SaarLorLux. In: TINNEFELD, THOMAS / KÜHN, BÄRBEL (eds.): Die Menschen verstehen: Grenzüberschreitende Kommunikation in Theorie und Praxis. Festschrift für Albert Raasch zum 90. Geburtstag. Tübingen, 57-71.
SANYAL, MITHU (2021): Identitti. München.
SMECHOWSKI, EMILIA (2017): Wir Strebermigranten. München.
RÖMHILD, REGINA (2014): Diversität?! Postethnische Perspektiven für eine reflexive Migrationsforschung. In: NIESWAND, BORIS / DROTBOHM, HEIKE (EDS.): Kultur, Gesellschaft, Migration. Die reflexive Wende in der Migrationsforschung. Wiesbaden, 255-270.
SCHIEWER, GESINE LEONORE (2018): Interkulturelle Literatur und Didaktik. In: ROCHE, JÖRG / VENOHR, ELISABETH (eds.): Kultur- und Literaturwissenschaften (= Kompendium DaF/DaZ, Bd. 7). Tübingen, 139-184.
SCHMIDT, JARA / THIEMANN, JULE (eds.) (2023): Kleine Formen – widerständige Formen? Postmigration intermedial. Würzburg.
SCHRAMM, MORITZ (2018): Jenseits der binären Logik. Postmigrantische Perspektiven für die Literatur- und Kulturwissenschaft. In: FOROUTAN, NAIKA / KARAKAYALI, JULIA / SPIELHAUS, RIEM (eds.): Postmigrantische Perspektiven. Ordnungssysteme, Repräsentationen, Kritik. Frankfurt a.M. / New York, 83-94.
SCHRAMM, MORITZ / MOSLUND, STEN PULTZ / RING PETERSEN, ANNE (eds.) (2019): Reframing. Migration, Diversity and the Arts. The Postmigrant Condition. London.
TERKESSIDIS, MARK (2017): Nach der Flucht. Neue Ideen für die Einwanderungsgesellschaft. Stuttgart.
YILDIZ, EROL (2022): „postmigrantisch“. In: BARTELS, INKEN / LÖHR, ISABELLA / REINECKE, CHRISTIANE / SCHÄFER, PHILIPP / STIELIKE, LAURA (eds.): Inventar der Migrationsbegriffe: www.migrationsbegriffe.de/postmigrantisch (11.11.2023).
YILDIZ, EROL / HILL, MARC (eds.) (2014): Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft. Bielefeld.
YILDIZ, EROL / MEIXNER, WOLFGANG (2021): Nach der Heimat. Neue Ideen für eine mehrheimische Gesellschaft. Stuttgart.
ZAIMOĞLU, FERIDUN (1997): Abschaum. Die wahre Geschichte von Ertan Ongun. Hamburg.

FILM
BECKER, LARS (2000): Kanak Attack. Deutschland.

Matthias N. Lorenz (Leibniz Universität Hannover)
Elisabeth Venohr (Universität des Saarlandes)

Wir freuen uns auf Beiträge, die das Phänomen des Postmigrantischen aus disziplinärer Perspektive konzeptuell oder am konkreten Beispiel hinsichtlich seines Erkenntniswertes für literatur- und kultur-, bildungs- und sprachwissenschaftliche Zugänge erforschen.

Ihre Beitragsvorschläge schicken Sie bitte bis zum 15. März 2024 an die folgenden Adressen:

linguistische und DaF/DaZ-Beiträge:
Beata Mikołajczyk – beatamik@amu.edu.pl

literatur- und kulturwissenschaftliche Beiträge:
Gudrun Heidemann – gudrun.heidemann@uni.lodz.pl

Website von CONVIVIUM: https://czasopisma.uni.lodz.pl/conv/index

1 Vgl. soziologisch FOROUTAN (2019); vgl. literarisch als nachgerade ‚aufklärerische‘ Adressierung ‚weißer‘ Leser*innen die Romane von BAZYAR (2021) und SANYAL (2021).