Acta Universitatis Lodziensis. Folia Germanica, 16, 2022
https://doi.org/10.18778/1427-9665.16.09

Elżbieta Tomasi-Kapral*

DOKUMENTARISCHES ERZÄHLEN IN DER DEUTSCHSPRACHIGEN PROSA VOR UND NACH DER WENDE DES JAHRES 1989


DOCUMENTARY NARRATION IN GERMAN LITERARY PROSE BEFORE AND AFTER THE POLITICAL TURN OF 1989


(Summary)

This article focuses on documentary narration in literary prose, which is analyzed with regard to its function and poetics using the example of selected texts of GDR protocol literature and German documentary literature of the post-reunification years. The question of what constitutes the peculiarity of documentary literature and what caused its popularity in the pre- and post-reunification period will be explored. Furthermore, selected examples will be used to illustrate how the levels of the factual and the fictional intermingle and complement each other in the individual texts. The texts discussed in this article are narratives that remain close to factual events, but at the same time fictionalize them and therefore cannot be considered completely and unambiguously in either the category of literary fiction or documentary.

Keywords: documentary literature, protocol literature, GDR, collapse of the GDR, Ministry of State Security.


1. Einführung

Mit dokumentarischem Erzählen wird man in mehreren Formaten konfrontiert: die Autor_innen von filmischen Fernseh- und Kinoproduktionen, Radiosendungen, Theatertexten und schließlich auch von Literatur greifen zu dieser Form der Darstellung, da sie eine gewisse Realitätsnähe erlaubt und vielleicht eben deswegen für bestimmte Rezipienten attraktiver als überwiegende Mehrheit der fiktionalen Ausdrucksformen sein mag.

Im Fokus dieses Beitrags befindet sich dokumentarisches Erzählen in der literarischen Prosa, welches am Beispiel von ausgewählten Texten der ostdeutschen Dokumentarliteratur und der deutschen Dokumentarliteratur der Nachwendezeit einer Analyse unterzogen wird. Bei den DDR-Texten handelt es sich um zwei Publikationen: Die Pantherfrau. Fünf unfrisierte Erzählungen aus dem Kassetten-Recorder (1974) von Sarah Kirsch und Guten Morgen, du Schöne (1977) von Maxie Wander. Im zweiten Teil des Beitrags werden drei Texte der deutschen Dokumentarliteratur nach 1989 behandelt: Staat im Staate (1990) von Christina Wilkening, Stasi-Kinder (2013) von Ruth Hoffmann und Die Stasi war mein Eckermann oder mein Leben mit der Wanze (1990) von Erich Loest. Sowohl die DDR-Texte als auch die Texte, die nach der politischen Wende des Jahres 1989 entstanden, betreffen jeweils denselben thematischen Schwerpunkt: im ersten Fall ist das die Situation der Frauen in der DDR und im zweiten – die Stasi. Ausschlaggebend bei der Zusammenstellung des Textkorpus war jedoch vielmehr die Tatsache, dass sie das Faktuale und das Fiktive auf unterschiedlichste Art und Weise zusammenfügen. Die im Weiteren vorgenommene Analyse der gewählten Texte konzentriert sich auf die Frage danach, wie die Autor_innen mit dem Dokumentarischen umgehen und durch welche Faktoren die Unterschiede in ihrer Herangehensweise an den dem literarischen Werk zugrunde liegenden, dokumentarischen Stoff bedingt sind.

Im ersten Schritt soll jedoch kurz auf den Begriff der Dokumentarliteratur eingegangen werden. Dem Bereich der Dokumentarliteratur werden Biographien, Autobiographien, Texte, die auf der Darstellung des Erlebten basieren (wie z.B.Erlebnisberichte, Reiseberichte, Tagebücher, Reportagen), aber auch Briefe, Porträts und Interviewliteratur (vgl. Schröder 1992, S.13) zugeordnet. In den letzten Jahren sind im deutschsprachigen Raum einige wissenschaftliche Publikationen erschienen (vgl. z. B.: Bidmon, Lubkohl 2022; Gansel, Braun 2020; Balke, Fahle, Urban 2020; Niehaus 2017; Fludernik 2015 u.a.), die sich mit der Beschaffenheit der Dokumentarliteratur auseinandersetzen und davon zeugen, dass dieses Thema in den Interessenbereich der Literaturwissenschaft, aber auch Geschichte und Soziologie rückt.

Im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft wird Dokumentarliteratur als „eine mit bereits vorgefundenen, authentischen Materialien operierende Literatur“ (Fähnders 2007, S.383) definiert. Des Weiteren wird jedoch darauf hingewiesen, dass dieser Authentizität doch Grenzen gesetzt werden, da

auch Dokumentarliteratur immer vom arrangierenden Eingriff des Autors geprägt und insofern nie das [ist], was sie letzten Endes vom Anspruch her sein möchte: unmittelbare, unverfälschte, unbearbeitete und somit authentische und ‚wahre‘ Wiedergabe von Realität. (Fähnders 2007, S.384)

Es handelt sich also um Texte, die zwar nah am faktischen Geschehen bleiben, aber dieses auch gleichzeitig fiktionalisieren und deswegen weder dem Bereich der Realität noch dem der Fiktion gänzlich und eindeutig zugeordnet werden können. Sie bewegen sich eher in einem Zwischenraum, den man als Bereich des Dokufiktionalen (Bidmon, Lubkohl 2022, S.5ff) bezeichnen könnte.

2. Dokumentarliteratur der ostdeutschen Autor_innen

Dokumentarisches Erzählen hat innerhalb der deutschen Literatur verschiedene Einsatzmöglichkeiten gefunden. Ein Beispiel dafür liefert das Genre, welches seit den 1970er Jahren als eine relativ neue Form literarischen Ausdrucks in der DDR einen hohen Stellenwert genoss und als Interviewliteratur bzw. Protokoll-Literatur[1] bezeichnet wurde.

Hans Joachim Schröder, dank welchem sich das Forschungsfeld der Interviewliteratur der DDR etabliert hat, definiert das Genre der Interviewliteratur wie folgt:

Mit dem zusammenfassenden Begriff Interviewliteratur werden […] an erster Stelle aus Interviews hervorgegangene Texte bezeichnet, die in gedruckter Form der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind und die meistens aus einer Sammlung von mehreren separaten, in sich geschlossenen Interviews bestehen. (Schröder 1992, S.28)

Die meisten in der DDR verfassten Texte der Interviewliteratur entstanden, ähnlich wie die journalistischen Interviews, in der Tat auf der Basis der Gespräche, die oft auf dem Tonband festgehalten, anschließend verschriftet und als Prosatext veröffentlicht wurden.[2] Der Einsatz bei den Interviews des kompakten Tonbandgeräts mit Aufnahmefunktion, der seit den 1970er Jahren immer populärer wurde, war beinahe revolutionär nicht nur für die journalistische Arbeit, sondern auch für die der Soziolog_innen und Autor_innen der Interviewliteratur. Im Unterschied zum handschriftlichen Protokollieren, erlaubte diese technische Errungenschaft die Aufzeichnung der Aussage mit allen sie begleitenden Nuancen, wie etwa Denkpausen oder Eigenart der Stimme (Sprechtempo, Zittern, Nervosität etc.). Die in der DDR verfassten interviewliterarischen Texte haben jedoch meistens die Form eines Monologs – die Fragen, die die Autor_innen den von ihnen gewählten Gesprächspartner_innen während des Interviews stellten, wurden von ihnen im Prozess der Verschriftung nicht mehr berücksichtigt, genauso wie die sich aus dem Gespräch ergebenden Bemerkungen oder wertenden Kommentare des Interviewers und Textautors zugleich. Solch eine Konstruktion des Textes, der sich in Folge dieses Verfahrens aus den scheinbar durch nichts gesteuerten Aussagen einer Person zusammensetzt, erweckt den Anschein einer unbegrenzten Spontaneität und ungeschminkten Realitätsnähe. Der Realitätsbezug manifestiert sich in den Texten der Interviewliteratur auf vielen Ebenen: bedeutsam sind dabei nicht nur die oben erwähnten formellen Aspekte, sondern bereits die von den Autor_innen vorgenommene Wahl des Gesprächsthemas, welches von einer hohen gesellschaftlichen Relevanz sein sollte. In den interviewliterarischen Texten wurden nämlich oft jene Themen ans Tageslicht gebracht, die in fiktionalen literarischen Texten, wie auch in den Presse- und Medienberichten marginalisiert oder gar verschwiegen wurden.[3]

Das bereits in den Titeln mancher interviewliterarischen Texte eingesetzte Wort ‚Protokoll‘ suggeriert, dass es sich um eine präzise, zuverlässige Wiedergabe von wichtigen Inhalten im sachlichen, schlichten und objektiven Stil handeln wird. In der literaturwissenschaftlichen Forschung wird jedoch gerade der Aspekt der Objektivität kritisch hinterfragt, was aus der Publikation von Reinhard Andress (2000) hervorgeht. Er weist auf einen wesentlichen Unterschied zwischen der Dokumentarliteratur und den interviewliterarischen bzw. Protokolltexten hin, indem er feststellt:

Mit dem Anspruch auf Authentizität sind Protokolltexte zwar allgemein der Dokumentarliteratur zuzuordnen, erweitern sie jedoch, indem nicht Faktenmaterial im Vordergrund steht, sondern hauptsächlich aus dem subjektiven Blickwinkel eines Individuums erzählt wird. (Andress 2000, S.49)

In der Tat enthalten die in der DDR entstandenen, auf Interviews und Protokollen basierten Texte viel Subjektives, was ihnen eine zusätzliche Dimension verleiht, die den Rahmen des rein Faktualen und Dokumentarischen sprengt. Andress zufolge geht es im Fall von solchen Texten in erster Linie nicht darum, bestimmte historische Begebenheit oder konkrete Sachverhalte möglichst objektiv darzustellen, sondern eher darum, dabei die subjektive Perspektive des erzählenden bzw. berichtenden Individuums, seine Wahrnehmungen und Gefühle hervorzuheben. Im Zentrum steht demnach nicht das Faktische, sondern das subjektive Empfinden, das oft durch starke Emotionen geprägt wird, was sich wiederum in Form von diversen sprachlichen Phänomenen des Textes manifestiert.

Was darüber hinaus die Eigenart der DDR-Interviewliteratur ausmacht, ist die Tatsache, dass im Vordergrund weder der Autor bzw. der Erzähler steht, der einer auktorialen Instanz ähnlich, den Leser in die dargestellte Welt einführt und sie ihm erklärt, noch ein fiktiver Protagonist, der in seiner Beschaffenheit die Richtlinien der SED-Kulturpolitik widerspiegelt, sondern ‚reale Menschen‘, meist durchschnittliche Bürger, Vertreter unterschiedlichster Berufsgruppen und gesellschaftlicher Schichten, die durch ihre Aussagen dem Leser einen Einblick in ihr privates und berufliches Leben gewähren, von ihren Nöten erzählen und ihre Meinung zu aktuellen gesellschaftlichen Problemen (selten auch politischen Fragen) äußern.

Der Autor zieht sich zwar in den Hintergrund, was jedoch nicht bedeutet, dass er gar keinen Spielraum für sich behält. Sehr passend scheint in diesem Kontext der Vergleich mit dem Übersetzer zu sein – ähnlich wie dieser, bemüht sich der Autor darum, den Inhalt des Interviews in dem auf seiner Grundlage konzipierten literarischen Text möglichst genau wiederzugeben. Er nimmt aber, indem der den Inhalt des zuvor durchgeführten Gesprächs aus der mündlichen in die schriftliche Form übersetzt, bestimmte Veränderungen vor. Es handelt sich dabei vorwiegend um die Veränderungen auf der formellen und stilistischen Textebene, die es zum Ziel haben, das in einem Gespräch zum Ausdruck Gebrachte der neuen, schriftlichen Form anzupassen, aber auch bestimmte Inhalte des Gesprächs hervorzuheben oder sie zu modifizieren, damit sie für die Rezipient_innen nachvollziehbarer werden (vgl. Reinmann 2008, S.101). Es ist durchaus möglich, dass all diese bereits erwähnten Aspekte der Interviewliteratur zur großen Beliebtheit dieses literarischen Genres in der DDR – dem Land ohne Medienfreiheit, beigetragen haben. Sie lieferten den ostdeutschen Leser_innen eine Art Ersatzöffentlichkeit, wo denjenigen die Stimme verliehen wurde, die im öffentlichen Diskurs versehen oder absichtlich außer Acht gelassen wurden.

Zu den bekanntesten Texten der Interviewliteratur aus der DDR gehört der Band der Lyrikerin Sarah Kirsch mit dem Titel Die Pantherfrau. Fünf unfrisierte Erzählungen aus dem Kassetten-Recorder aus dem Jahre 1974 (1978 in Westdeutschland mit dem Titel Pantherfrau – Fünf Frauen in der DDR erschienen). Der Band beinhaltet fünf Texte, welchen Gespräche mit fünf Frauen zugrunde liegen. Zu Wort kommen hier eine Dampteuse, eine Kaderleiterin beim Berliner Ensemble, eine Bezirksratabgeordnete, eine leitende Ökonomin in einem Kombinat und eine ungelernte Arbeiterin. Die Auswahl der Gesprächspartnerinnen zeugt zwar von einem Bemühen der Autorin, möglichst unterschiedliche Frauenporträts zu präsentieren, kann jedoch nicht als repräsentativ für die DDR-Gesellschaft gelten, was die Autorin selber zugibt (vgl. Kirsch 1978, S.30). Der Band liefert zahlreiche Beispiele dafür, wie sich das dokumentarische Erzählen mit den literarischen Elementen abwechselt. Bereits die Form, in welcher der Verlauf der Gespräche, die – wie im Titel angegeben auf einem Kassetten-Recorder aufgenommen wurden, schriftlich präsentiert wird, zeugt deutlich von Präsenz einer heterodiegetischen Instanz, die in den Text eingreift, ihn doch ‚frisiert‘ und poetisiert. Die Autorin verzichtet bei der Verschriftung konsequent auf die Form des Interviews, auf das Wechselspiel von Fragen und Antworten und wählt die Form eines ununterbrochenen Monologs, in welchem die zur Sprache gebrachten Probleme und Reflexionen fließend ineinander übergehen. Der Redefluss ist nicht mal durch Absätze geordnet. Des Weiteren verzichtet Kirsch auf knappe, objektive und sachliche Kapitelüberschriften, wie sie in den meisten Texten der Interviewliteratur zu sehen sind. Statt Kapitelüberschriften, die lediglich auf eine informative Funktion reduziert wären und dem Leser Auskunft über die das Wort ergreifende Person geben würden (wie z. B.: Anna Schmidt, 45 J., Hausfrau), führt sie beinahe poetische und metaphorische Überschriften ein (wie etwa: „Pantherfrau“, „Eine Badewanne voll Schlagsahne“ etc.). Ein weiteres Element der Poetisierung des Textes bilden die kommentarartigen Ergänzungen der Autorin zu jedem Kapitel. Sie werden vom restlichen Text auch graphisch durch kursive Schrift abgetrennt und fungieren als eine Art Kommentar aus dem off, in welchem die im Text bereits verwendeten Sätze wiederholt werden, und mit dessen Hilfe das Wichtigste an der präsentierten Aussage hervorgehoben werden soll. In manchen Fällen wird auf solche Art und Weise eine positive und verständnisvolle Einstellung der interviewten Person zur ostdeutschen Politik betont, wie z. B.: „Wichtig ist unsere Entwicklung zu Sozialisten“ (Kirsch 1974, S.79). Derartige Hervorhebung politischer oder anderer Inhalte fesselt die Aufmerksamkeit der Leser_innen und eröffnet neue Interpretationsmöglichkeiten.

Trotz dieser Elemente, die für das fiktionale Erzählen typisch sind, ist die Wirklichkeitsnähe des Textes und seine gesellschaftliche Relevanz unbestritten. Indem sich die fünf Protagonistinnen selbst erzählen, gehen sie auf die für die meisten Leserinnen, DDR-Bürgerinnen gut bekannten Probleme ein. Zwar wird mit der ersten Protagonistin, welche sich beruflich mir Dressur wilder Tiere beschäftigt, das exotische, die Alltagsroutine durchbrechende Element in den Band eingeführt, aber die drei weiteren Biographien (es geht um drei selbstbewusste, berufstätige Frauen in leitenden Positionen, die sich aktiv am Aufbau des Sozialismus beteiligen) entsprechen schon weitgehend dem von der SED-Regierung propagierten Bild ,der Heldinnen der Arbeit‘. Ein Pendant zu ihnen bildet das letzte Porträt einer ungelernten Arbeiterin, deren Selbstdarstellung nicht so stark auf die Beschreibung der Karriere mit Berücksichtigung der Herausforderungen des Sozialismus fokussiert ist, sondern eher auf Herausforderungen des Alltags, die sie zu bewältigen hat (wie Familienleben, Geldnot, Probleme in der Ehe etc.) Die dargestellten ‚wahren‘ Lebensgeschichten liefern den Leser_innen eine Vergleichsbasis: sie können sich mit ihnen kritisch auseinandersetzen, in ihnen Bestätigung oder Verneinung eigener Weltsicht finden.

Die Publikation von Kirsch, die eigentlich kein Ergebnis des dichterischen Einfalls sondern eine der Autorin vom Aufbau-Verlag in Auftrag gegebene Arbeit war, wurde bereits innerhalb von wenigen Tagen nach der Erstveröffentlichung vergriffen.

Ähnlich verhält es sich mit dem Band von Maxie Wander Guten Morgen, du Schöne aus dem Jahre 1977, der gleich nach der Veröffentlichung zu einem Kultbuch in der DDR wurde. Mit dieser Publikation, die sich um eine authentische Darstellung des Frauenalltags in der DDR bemüht, erreichte die Autorin, die selber ‚zu Gast‘ in der DDR war, ein großes Publikum auf den beiden Seiten der Mauer. Maxie Wander kam in die DDR aus Wien im Jahre 1958 und blieb dort bis zu ihrem Tod im Jahr 1977 (vgl. Haux 2022). Ihr Alltag in der DDR sah anders aus als im Fall der meisten DDR-Bürger_innen. Da sie eine unbeschränkte Reisefreiheit genoss, gewann sie eine andere Perspektive auf den real existierenden Sozialismus. Ihr Vorhaben, neunzehn Frauen eine Stimme zu geben, mag aus der Absicht der Autorin resultieren, ein Zeichen gegen die in der DDR fehlende Meinungsfreiheit und Enge des Lebens zu setzen. Die Protagonistinnen der einzelnen Kapitel sind im unterschiedlichem Alter und repräsentieren diverse Berufsgruppen und Milieus. Die Gespräche drehen sich thematisch nicht um Arbeit und Politik, wie dies bei Kirsch der Fall war, sondern deutlich um das Private herum. Die Frauen thematisieren zwar ihr Berufsleben und geben Ausdruck ihrer politischen Anschauungen (wobei eine offene Kritik des DDR-Sozialismus auch diesmal verständlicherweise ausbleibt), aber eher nebenbei. Hervorgehoben werden solche Aspekte, wie Kinder und Ehe, Freundschaft und Vertrauen, (erfüllte und unerfüllte) Träume und das Bestreben nach Glück, bis hin zur Sexualität und Geschlechterrollen. Im Band erklingen also viele neue Töne, denn was die Leser_innen hier vorfinden, ist keine Anpreisung des Lebens in der DDR und keine Präsentation von Erfolgsgeschichten der berufstätigen Frauen, die ihnen aus den Medienberichten bereits bekannt waren. Im Zentrum stehen vielmehr Lebensgeschichten einfacher Frauen, die voll Zweifel und Nöten sind und mit welchen eher Schattenseiten des Lebens im real existierenden Sozialismus veranschaulicht werden.

Bei der Wahl ihrer Gesprächspartnerinnen konzentrierte sich Wander auf jene Frauen, deren Leben durch Krisen gekennzeichnet war. Solch eine Vorgehensweise mag durch Begebenheiten aus dem Privatleben der Autorin erklärt werden: der Ehemann von Maxie Wander – ein Holokaust-Überlebender, ehemaliger KL-Häftling, versuchte nach dem Krieg seine traumatischen Erlebnisse aufzuarbeiten, was bestimmt nicht ohne Einfluss auf das Leben der ganzen Familie blieb. Dazu kommt der tragische Tod der Tochter, die in eine ungesicherte Baugrube stürzte und an den Verletzungen starb, was zu Selbstvorwürfen und einer tiefen Depression bei der Schriftstellerin führte. Die bei Wander kurz darauf diagnostizierte Krebskrankheit bildete eine weitere folgenschwere Krise in ihrem Leben (vgl. Haux 2022).

Jedoch auch Wander, ähnlich wie Kirsch, verlässt den Bereich des Faktualen und lässt in ihr Buch fiktionale Elemente einfließen. Ihre literarische Strategie wurde von der Freundin der Schriftstellerin – Annerose Richter, im Interview mit Hand Joachim Schröder folgenderweise beschrieben:

Maxie hat ja drei Methoden in ihrem Buch verwendet. Sie hat das reine Protokoll hergestellt, das allein von derjenigen Person kommt, mit der sie gesprochen hat. Da hat sie nur Namen und 'n paar Daten verändert […]. Dann hat sie […] aus zwei etwa ähnlichen Personen eine gemacht, weil ihr das einzelne Leben zu langweilig erschien. Hat sie also wirklich zwei Leute gebündelt und das zusammengestrickt. Und das genügte ihr aber auch nicht. Sie war doch zu sehr auch schöpferischer Mensch, da hat sie einige Personen selber erfunden. (Schröder 1992, S.225)

Wie aus dem oben zitierten Interview ersichtlich wird, sind die Eingriffe der Autorin in das dokumentarische Material deutlicher und weitgehender als bei Kirsch. Die beiden Ebenen gehen nahtlos ineinander über – die von Wander vorgenommenen Änderungen und Ergänzungen werden nicht mal graphisch markiert, wie dies bei Kirsch der Fall war. Die Leser_innen wissen demnach nicht, wann sie den Bereich des Dokumentarischen verlassen und mit literarischer Fiktion konfrontiert werden. Hinter solcher Vorgehensweise ist eine deutliche Absicht der Autorin erkennbar, den dokumentarischen Stoff noch attraktiver zu machen. Das Erfundene und das Dokumentierte ergänzen sich und bilden ein collageartiges Konstrukt, das jedoch durch die Wirklichkeit inspiriert ist und in ihr verankert bleibt.

Der Interview-Band von Maxie Wander wurde mit einem Vorwort von Christa Wolf versehen, in welchem noch ein weiterer Aspekt dieser Prosa hervorgehoben wurde:

Dies ist ein Buch, dem jeder sich selbsthinzufügt. Beim Lesen schon beginnt die Selbstbefragung. In den Nächten danach entwerfen viele Leserinnen, da bin ich sicher (nicht so sicher bin ich bei Lesern), insgeheim ihr Selbstprotokoll – inständige Monologe, die niemand je aufzeichnen wird. Ermutigt durch die Unerschrockenheit der andern, mögen viele Frauen wünschen, es wäre jemand bei ihnen, der zuhören wollte: wie M.Wander ihren Gesprächspartnerinnen. (Wolf 1977, S.12)

Diese Feststellung von Christa Wolf könnte man auf beide zuvor beschriebene Texte beziehen, da sowohl Kirsch als auch Wander es geschafft haben, mir ihren für die damalige Zeit neuartigen Publikationen einerseits den ostdeutschen Leser_innen eine Identifikationsgrundlage zu geben, die jedoch anders als im Fall der sog. schönen Literatur im wahren Leben verankert war und andererseits ihr Lesepublikum in der Meinung zu bestätigen, dass es mit seinen Sorgen, Zweifeln und Problemen, die bisher in der breiten Öffentlichkeit nicht thematisiert waren, nicht alleine war. Dies wurde durch eine gekonnte und ausgewogene Verbindung des Realen mit dem Fiktionalen erreicht.

Kirsch und Wander befassten sich, worauf bereits hingewiesen wurde, mit der Frauenthematik. Ihre Texte präsentierten Frauenperspektive, richteten sich an Frauen und wurden vorwiegend von Frauen rezipiert. Ergänzend soll jedoch auf die ostdeutsche Interviewliteratur hingewiesen werden, die sich mit Männerproblematik befasste. In diesem Kontext kann beispielsweise Christine Müller und ihr Band Männerprotokolle erwähnt werden, der 1985 in Ostdeutschland und ein Jahr später in Westdeutschland unter dem viel kommerzielleren Titel James Dean lernt kochen. Männer in der DDR erschien. Es wurden hier sechzehn Selbstporträts von Männern im unterschiedlichen Alter, von unterschiedlicher sozialer Herkunft und Lebenserfahrung dem Lesepublikum präsentiert. Im Jahre 2015 wurde nach seiner Vorlage ein Kurzfilm unter dem gleichen Titel von Michael Blume gedreht. Für groβes Ansehen sorgte im Wendejahr 1989 die Publikation von Jürgen Lemke mit dem Titel Ganz normal anders. Auskünfte schwuler Männer. Das Buch wurde mit großem Interesse aufgenommen, da mit ihm Themen zur Sprache gebracht wurden, die in der DDR tabuisiert waren. Lemke präsentiert in seinem Band vierzehn Geschichten, in denen die Homosexuellen zu Wort kommen und über ihr Leben im Krieg (was oft mit KL-Erfahrung verbunden war) und im real existierenden Sozialismus ein Zeugnis ablegen. Aus den von Lemke durchgeführten Interviews ergibt sich ein Überblick über die Diskriminierungsgeschichte der Homosexuellen im Krieg und danach, wobei es sich nicht nur um die Situation im Osten, sondern auch im Westen handelt, wasderPublikation eine interessante, vergleichende Dimension verleiht (vgl.Schröder 2001, S.81).

Abschließend soll noch hervorgehoben werden, dass der literarische und ästhetische Wert der DDR-Interviewliteratur zwar nach wie vor eher geringer geschätzt wird, doch das, was geschätzt wird, ist die Tatsache, dass sie die Verhaltensweisen, Mentalitäten, Denkmuster, Rollenverständnisse, Meinungsvielfalt innerhalb einer Gesellschaft dokumentiert.

3. Deutsche Dokumentarliteratur nach 1989

Die politische Wende des Jahres 1989, die in die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten mündete, brachte auch im kulturellen Bereich bedeutende Entwicklungen mit sich.

Seit dem Jahr 1989 hat sich innerhalb der deutschen Literatur ein neues Genre etabliert, für dessen Bezeichnung sich inzwischen der Begriff Wendeliteratur eingebürgert hat. Dieser Kategorie werden jene Texte zugeschrieben, die thematisch um die Jahre 1989–1990 und die Frage der deutschen Einheit kreisen. Es ist beachtenswert, dass es vor allem die DDR-Autor_innen waren, die in den 1990er Jahren wesentlich zur Herausbildung der Wendeliteratur beigetragen haben.[4] Dem mag die Tatsache zugrunde liegen, dass die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen nach dem Fall der Berliner Mauer von den ehemaligen DDR-Bürger_innen stärker gespürt wurden, da sie in vielen Fällen mit Orientierungsverlust, der Unfähigkeit, in der neuen Wirklichkeit zurechtzukommen, der Revidierung der bisher vertretenen Weltanschauung und nicht selten auch mit Identitätskrisen verbunden waren. Die in den Jahren 1990er entstandenen Werke, welche die ersten literarischen Reaktionen auf die politische Wende in Deutschland darstellten, hatten oft einen überwiegend autobiographischen Charakter und nicht selten dokumentarischen Wert. Im Folgenden soll nun auf einige Texte, die dem Genre der Dokumentarliteratur gehören, aufmerksam gemacht werden, die sich mit dem Themenbereich ‚Stasi‘ auseinandersetzen. Die gewählten Beispiele sollen vor allem die Unterschiede im Umgang der Autor_innen mit dem dokumentarischen Stoff illustrieren.

Im Jahre 1990 hat die Journalistin Christina Wilkening einen Interview-Band mit dem Titel Staat im Staate (1990) veröffentlicht, in welchem ihre Gespräche mit ehemaligen Stasi-Mitarbeiter_innen präsentiert wurden. Der Wahl des Themas und der Gesprächspartner_innen lag die Absicht zugrunde, herauszufinden,

[…] wer diese Stasi-Leute waren, die im Volke so gefürchtet und so verhasst waren. Was sie dachten und wie sie sich heute fühlen. Allen im Land hat man die Möglichkeit gegeben zu reden, sich zu rechtfertigen – ihnen nicht. Ich möchte es mit diesem Buch nachholen. (Wilkening 1990, S.8)

In den Gesprächen werden mehrere Aspekte des DDR-Alltags erwähnt, aber im Vordergrund stehen Ansichten und Überlegungen der interviewten Personen zu ihrer Rolle als Teil des Unterdrückungsapparats. Was bei der Lektüre auffällt, ist das beinahe in allen Fällen mangelnde Schuldbewusstsein. Stattdessen findet man reichlich Rechtfertigungsversuche, die durch Selbstmitleid geprägt sind. Die interviewten Mitläufer stellen sich eher in die Reihe der Opfer des Systems und delegieren die Schuld nach oben. Sie selber wollen sich nur darum bemüht haben, die ihnen zugewiesenen Pflichten ehrlich und gewissenhaft zu erfüllen und ihre Arbeit vorbildlich auszuüben. Unter den zwölf interviewten Personen gibt es nur eine Frau. Darüber hinaus gibt es darunter weder Befehlshaber, noch IMs, was zur Folge hat, dass das in der Publikation präsentierte Stasi-Bild ziemlich eindimensional und keineswegs als repräsentativ betrachtet werden kann (vgl. Andress 1994, S.52). Im Vorwort zu ihrer Publikation beteuert die Autorin, dass sie die wahre Identität ihrer Gesprächspartner_innen aus Sorge um ihre Sicherheit für sich behalten wird. Demnach sind die Personalangaben, die jedem Protokoll vorangestellt wurden (wie etwa: „Jürgen, 37 Jahre, Hauptverwaltung Aufklärung“ (Wilkening 1990, S.4), zum Teil fiktiv. Ähnlich wie Kirsch, entscheidet sich auch Wilkening dafür, die einzelnen Kapitel des Bandes mit Titeln zu versehen. Zu diesem Zweck wählt sie aus jedem Kapitel besonders aussagekräftige Sätze, mit denen einerseits die Einstellung der interviewten Person zu ihrer Rolle in der SED-Diktatur bzw. zu der Wende veranschaulicht wird und andererseits die Aufmerksamkeit der Leser_innen gefesselt bzw. auf bestimmte Ansichten gelenkt wird – ein Verfahren, welches aus der journalistischen Praxis der Autorin resultieren mag (wie z. B.: Überschrift zu Kap. 3 „Ich war ein Teil, der zu funktionieren hatte“ (Wilkening 1990, S.22) oder Überschrift zu Kap. 4 „Ich wünsche mir, dass alles friedlich bleibt“ (ebda., S.37)). Sonst überwiegt im Text deutlich das Dokumentarische – die Autorin verzichtet zwar, ähnlich wie Kirsch, auf die fürs Interview typische Form des Dialogs und stellt die Gespräche als Monologe dar, ingeriert jedoch nicht in den Aufbau der einzelnen Kapitel. Die mehrere Seiten umfassenden Aussagen sind zwar in Absätze geteilt, man hat jedoch bei der Lektüre den Eindruck, dass sie lediglich Denkpausen signalisieren sollen. Die einzelnen Absätze werden nämlich nicht thematisch sortiert, wodurch nicht verhindert wurde, dass das gleiche Thema oftmals angesprochen wird, was einerseits einen chaotischen Eindruck entstehen lässt, andererseits von einer großen Realitätsnähe des Textes zeugt. Die journalistische Erfahrung der Autorin zeigt sich deutlich in der formellen und stilistischen Beschaffenheit ihres Protokoll-Bandes. Anders als Kirsch und Wander bemüht sie sich nicht darum, das Faktische um eine fiktionale Dimension zu erweitern bzw. zu ergänzen. Ganz im Gegenteil, sie versucht möglichst nah am Dokumentarischen zu bleiben und dadurch ihr Buch von der sog. schönen Literatur abzugrenzen.

Die Stasi als Motiv kommt auch in viel später entstandenen Texten der Dokumentarliteratur vor, in welchen die jüngere Generation, die die DDR lediglich als Kind erlebt hat, zu Wort kommt. Dies kann am Beispiel der Publikation Stasi-Kinder (2013) von Ruth Hoffmann veranschaulicht werden, welche eine Sammlung von kurzen, biographischen Geschichten darbietet, die von den im Moment der Veröffentlichung schon erwachsenen Kindern hauptamtlicher oder inoffizieller Stasi-Mitarbeiter erzählt wurden. Hoffmanns Gesprächspartner_innen wohnten als Kinder in den Hochhäusern an der Frankfurter Allee in Berlin, die im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit für ihre Mitarbeiter, in der unmittelbaren Nähe der Zentrale errichtet wurden. Ihren Wunsch, eben dieser gesellschaftlichen Gruppe die Möglichkeit zu geben, über ihre Erfahrungen mit der Stasi zu berichten, rechtfertigt die Hamburger Journalistin wie folgt:

[…] während ehemalige MfSler auf Tagungen, Diskussionsveranstaltungen oder in Dokumentarfilmen längst selbstbewusst ihre Sicht der Vergangenheit schildern, schweigen ihre Töchter und Söhne. Entsprechend wenig Material gibt es über sie. Keine Bücher, keine soziologischen oder psychologischen Untersuchungen, nicht einmal ein Forum im Internet. (Hoffmann 2013, S.8)

Mit ihrer Publikation hofft die Autorin, diese Lücke zu füllen und die These zu bekräftigen, dass zu den Stasi-Opfern nicht nur jene gehörten, auf die die Stasi es direkt abgesehen hatte. Aus den zwanzig durchgeführten Interviews fanden, so die Autorin, nur dreizehn Eingang in das Buch (vgl. Hoffmann 2013, S.8). Aus dem gesammelten Material konzipiert Hoffmann die in der dritten Person (und nicht in der ersten, wie in den meisten in diesem Beitrag besprochenen Texten der Dokumentarprosa) erzählten Geschichten, deren Protagonist_innen, bis auf wenige Ausnahmen, unter ihren richtigen Namen auftreten (vgl. Hoffmann 2013, S.9). Nicht nur auf der narrativen Ebene entfernt sich Hoffmann deutlich von dem bisher besprochenen Modell der Interviewliteratur. Dies wird auch in der Struktur des Bandes sichtbar. Auch dieses Buch besteht zwar aus Kapiteln, jedoch das, was ihren Inhalt ausmacht, sind nicht komplette Porträts der einzelnen interviewten Personen, sondern Collagen aus allen dreizehn Geschichten, die nach Motiven zusammengestellt werden. So werden z. B. im Kapitel „Gehorchen“ (Hoffmann 2013, S.11–31) jene Abschnitte aus den erzählten Lebensgeschichten subsumiert, die diesem Aspekt der Kindheit der Stasi-Kinder entsprechen. Diese Collage-Technik hat zur Folge, dass die Leser_innen gleich im ersten Kapitel Einblicke in die Lebensgeschichten von mehreren Protagonist_innen bekommen, welche sie dann in den weiteren Kapiteln näher kennenlernen. Darüber hinaus wird durch solch eine Buchstruktur veranschaulicht, dass das, was sich hinter verschlossener Tür in einzelnen Stasi-Familien abgespielt hat (wie etwa die physische und psychische Gewalt, Betrug, Erpressung, Missbrauch) doch kein Ausnahmefall war –eine individuelle Geschichte wird in den Rang einer Gruppenerfahrung erhoben. Jedem ‚dokumentarischen‘ Kapitel folgt darüber hinaus ein wissenschaftlicher Exkurs, in welchem die im jeweiligen Kapitel angesprochenen Aspekte der DDR-Wirklichkeit erklärt werden. So wird durch diese wissenschaftlichen Exkurse das zuvor Erzählte in einem breiteren gesellschaftlich-historischen Kontext gezeigt und gleichzeitig auch beglaubigt, wodurch der dokumentarische Charakter des ganzen Vorhabens hervorgehoben wird.

Hoffmann konfrontiert die Leser_innen mit unterschiedlichsten Schicksalen – unter ihren Gesprächspartner_innen findet man sowohl solche Personen, die angepasst und stolz auf die Tätigkeit ihrer Eltern waren, als auch solche, die von Anfang an rebellierten und deswegen auch Haft oder Erniedrigung im familiären Milieu erlebten. Es gibt auch solche Protagonist_innen, die erst nach der Wende von der Stasi-Mitarbeit ihrer Eltern erfuhren, was zu einer Krise in den familiären Beziehungen einerseits und zu einer Identitätskrise der jungen Menschen andererseits, führte. Aus diesen Texten geht eindeutig hervor, dass die Auseinandersetzung mit dieser Problematik einen wichtigen Bestandteil des Umgangs der jungen Generation mit der eigenen Vergangenheit bildet. Mit ihrer Publikation hält Hoffmann die Erinnerungen der Kinder-Generation an jenen Teil der ostdeutschen Geschichte, der vorwiegend aus der Perspektive ihrer Eltern erzählt wurde, fest.

Die Stasi war zwar ein häufiges, aber nicht das einzige Thema der interviewliterarischen Texte im Nach-Wende-Deutschland. Die meisten dieser Texte befassen sich mit der breit verstandenen, ostdeutschen Problematik und halten somit die Erinnerungen der Zeitzeugen an das Leben im real existierenden Sozialismus fest. Zu Wort kommen hier z.B. ehemalige DDR-Bürger, die über die Folgen der Wende für ihr Leben sprechen, wie etwa in der von Rainer Zoll herausgegebenen Publikation Ostdeutsche Biographien: Lebenswelt im Umbruch (Zoll, Rausch 1999). Auch Erinnerungen ehemaliger Stasi-Häftlinge erweisen sich als eine interessante und durchaus wertvolle Informationsquelle über das Leben in der sozialistischen Diktatur, was Hubertus Knabe mit seinem Buch Gefangen in Hohenschönhausen (Knabe 2007) beweist. Das Wort ergreifen auch die DDR-Frauen, die über die Gleichberechtigung von Mann und Frau und ihre Stellung in der ostdeutschen Gesellschaft sprechen (vgl. Behnk, Westerwelle 1995). All diese Publikationen präsentieren ein breites Spektrum an Schicksalen und bilden eine Plattform, wo jene Gesichtspunkte, Überzeugungen und Wahrheiten artikuliert werden können, die im öffentlichen Diskurs nicht berücksichtigt wurden.

Nach der Wende des Jahres 1989 sind in Deutschland auch Publikationen erschienen, in denen sich nicht die Journalist_innen, sondern die DDR-Schriftsteller_innen mit ihrer Vergangenheit und den traumatischen Erfahrungen mit der Staatssicherheit auseinandersetzen. Die Schriftsteller_innen bildeten in der DDR bekanntlich jene gesellschaftliche Gruppe, welche von der Staatssicherheit intensiv anvisiert wurde. Dies war durch die besondere Rolle, welche man im SED-Staat Literatur und Kunst schlechthin zuschrieb, bedingt. So zielte man darauf ab, dass die Schriftsteller mit ihren literarischen Werken das sozialistische System unterstützen, die Gesellschaft von der Richtigkeit der von der Propaganda verbreiteten sozialistischen Ideologie überzeugen und den Bürgern positive Verhaltensmuster zur Identifikation und Nachahmung liefern sollten. Jene Schriftsteller_innen, die ihre Aufgabe anders verstanden haben, galten als gefährliche, das System bedrohende Abweichler_innen, welche eingeschüchtert, mundtot gemacht und, wenn es sein muss, aus dem Land ausgewiesen werden sollten. Davon, wie wichtig es für die DDR-Regierung war, nicht-systemkonforme Literatur und Schriftsteller_innen unter Kontrolle zu halten, zeugt unter anderem die Tatsache, dass im Jahr 1969 innerhalb des Ministeriums für Staatssicherheit samt entsprechenden Referaten die Hauptabteilung (HA) XX/7 eingerichtet wurde, deren Hauptaufgabe darin bestand, mithilfe von 40 hauptamtlichen und 350 inoffiziellen Mitarbeitern die DDR-Schriftsteller_innen zu überwachen. Die Repressionen, welche im Fall eines unbequemen Schriftstellers / einer unbequemen Schriftstellerin eingesetzt werden konnten, waren breit gefächert. Das Spektrum reichte von einer Sicherheitsüberprüfung bis zur Anlage eines Operativen Vorgangs (OV). Oft kam es auch zu strafrechtlichen Verfahren, welche mit Inhaftierung des Schriftstellers endeten (vgl. Walther 1999, S.289ff).

Es verwundert daher nicht, dass die (eigenen) Erfahrungen mit Stasi und die daraus möglicherweise resultierten Traumata[5] zu einem häufigen Motiv in den literarischen Texten ostdeutscher Schriftsteller_innen nach der Wende geworden sind. Viele wurden unter anderem durch eine direkte Konfrontation mit den eigenen in der DDR geführten und nach der Wende zugänglich gemachten Stasi-Akten inspiriert. Dies ermöglichte unter anderem das Stasi-Unterlagen-Gesetz, welches am 29. Dezember 1991 in Kraft trat und den betroffenen Personen die Möglichkeit gab, Einsicht in die Stasi-Akten zu bekommen. Zu den ersten Publikationen, die in diesem Kontext erwähnt werden sollten, gehört das Buch Deckname Lyrik. Eine Dokumentation von Reiner Kunze (Kunze 1990). In diesem Band wurden jene erhalten gebliebenen Dokumente veröffentlicht, welchen man unter anderem entnehmen kann, wie lange, auf welche Art und Weise und in welchen Situationen der Schriftsteller Rainer Kunze von Stasi ausspioniert wurde und zu welchen Mitteln die Stasi-Mitarbeiter griffen, um die Personen aus der nächsten Umgebung des Schriftstellers als Spitzel anzuwerben. Ebenfalls im Jahre 1990 erscheint das Buch Der Zorn des Schafes. Aus meinem Tagewerk (1990) von Erich Loest und ein Jahr später Die Stasi war mein Eckermann oder mein Leben mit der Wanze (1991) desselben Autors. Beide Werke beinhalten Auszüge aus den von der Stasi über Loest geführten Akten. Loest konfrontiert den Leser jedoch nicht nur mit seiner in den Stasi-Akten festgehaltenen Geschichte, sondern auch mit einer genauen Analyse der Aufzeichnungen, welche ihn oft zu tiefgreifenden Fragen existenzieller Natur führt.

Während man in dem Buch Der Zorn des Schafes lediglich Abschnitte aus den Stasi-Akten des Schriftstellers findet, besteht die zweite oben erwähnte Publikation schon fast ausschließlich aus den Stasi-Unterlagen, die in unterschiedlichste, die Bürokratie des Systems widerspiegelnde Kategorien aufgeteilt wurden: Berichte, Sachstandberichte, Informationsberichte, Beobachtungsberichte, dienstliche Notizen, Tonbandabschriften, Aktennotizen, Auskünfte und Kopien der privaten Korrespondenz des Schriftstellers. Loest stellt die Dokumente so zusammen, dass sich daraus eine chronologisch erzählte Geschichte der Bespitzelung und Repression ergibt, die sich in den Jahren 1975–1981 abspielt. Die von dem Schriftsteller zwar kommentarlos zusammengefügten Dokumente entfalten ihr narratives Potential und erzählen nicht nur die Geschichte eines Konflikts zwischen dem unerwünschten und unbequemen Schriftsteller und dem Staat, sondern vermitteln auch viele Informationen über das private Leben, den Freundeskreis und familiäre Beziehungen des Schriftstellers Erich Loest, der zum Hauptprotagonisten dieser Geschichte wird:

L. fühlt sich in seiner neuen Wohnung sehr wohl. Besucher empfängt er im Wohnzimmer. Die Wohnung ist wie folgt aufgeteilt. Ein Arbeitszimmer für L., 1 Zimmer für seine Frau, 1Schlafzimmer für L., ein gemeinsames Wohnzimmer. Die Familienverhältnisse sind nach den ersten Eindrücken geordnet. Zu seinen Kindern hat L. ein gutes Verhältnis. Die Tochter wohnt in der Oststraβe. Sein Sohn, welcher Mathe studiert hat, ist verheiratet und wohnt auch nicht mehr bei seinen Eltern. (Loest 1991, S.49)

Die in den Dokumenten festgehaltene Geschichte hat aber viele Protagonisten: neben Loest treten dort auch andere Schriftsteller, mit denen er in diesen Jahren Kontakte pflegte, aber auch überraschend viele Stasi-Mitarbeiter, die in seine Observation involviert waren und die in ihren Berichten auch nolens volens eigene Spuren hinterlassen – wie der Oberleutnant Heinig etwa, der Autor der oben zitierten Notiz, dessen Wortwahl, Vorliebe für kurze, einfache Sätze ohne Konnektoren und häufige grammatische Fehler einiges über sein Bildungsniveau verraten.

Das Buch von Loest platziert sich deutlich an der Grenze zwischen der faktualen und fiktionalen Narrative. Es besitzt die für die Dokumentarliteratur typischen Elemente: im ersten Teil (Der Schatz hinter der Mülltone (Loest 1991, S.7)), welches als eine Art Einführung fungiert, findet der Leser die Wiedergabe der Gespräche, welche der Autor mit den ihm bisher unbekannten Personen führte, die behaupteten, seine Stasi-Unterlagen in der Mülltonne gefunden zu haben. Es ist jedoch keine nur auf die Darstellung der Fakten und des Gesprächsverlaufs reduzierte Erzählung. Sie beinhaltet auch kritische, wertende Kommentare des Schriftstellers, wie auch die Beschreibung seiner Bemühungen, auf eigene Hand der Wahrheit auf den Grund zu gehen und festzustellen, ob die ihm vorgelegten Unterlagen original und nicht etwa gefälscht oder präpariert wurden. Die ihm gelieferte Dokumentation wird also auf ihr Wahrheitsgehalt geprüft und letztendlich als glaubwürdig eingestuft. Nun tendiert der Leser, der im zweiten Teil des Textes mit den Auszügen aus den Stasi-Akten des Schriftstellers konfrontiert wird, dazu, diese – ähnlich wie der Autor zuvor – auch kritisch zu betrachten. Zumal es sich nicht um Abbildungen der wahren Dokumente handelt, sondern lediglich um derer Abschriften. Es fehlen also für die Aktenunterlagen typische Elemente, wie z.B.: Stempel, Paginalisierung, handgeschriebene Kommentare bzw. Anweisungen, Unterschriften etc. Der Autor schließt also einen dokumentarischen Pakt mit dem Leser, indem der für die Authentizität der ihm vorgelegten Dokumente bürgt.

Die Publikationen von Loest stehen repräsentativ für eine für die Literatur der unmittelbaren Nachwendezeit charakteristische Tendenz zur privaten Abrechnung mit dem Leben im ‚real existierenden Sozialismus‘. Die Stasi-Akten wurden für viele, ähnlich wie für Loest, nicht nur zu einer wichtigen Informationsquelle, sondern auch zu einer Inspiration aus der das Vorhaben resultiert, das Vergangene nicht mittels Fiktion sondern anhand von Dokumenten zu erzählen. Die in einem bürokratischen, unpersönlichen Stasi-Deutsch verfassten Notizen lieferten zahlreiche Beweise für die Unmenschlichkeit dieses politischen Systems, veranschaulichten einen ungleichen Kampf des Einzelnen gegen die Staatsmacht und bürgten gleichzeitig für die Authentizität der dargestellten Lebensgeschichte.

4. Schlussbemerkungen

Die im vorliegenden Beitrag zitierten Texte, welche dem großen Bereich der Dokumentarliteratur angehören, unterscheiden sich voneinander unter vielen Aspekten, wie zum Beispiel Entstehungszeit, Entstehungsumstände, thematische Schwerpunkte und letztendlich auch Autorschaft – manche wurden von Journalist_innen, manche von Schriftsteller_innen verfasst, was einen wesentlichen Einfluss auf ihre Form und Ästhetik, aber auch auf den Umgang mit dem Dokumentarischen hatte. Das, was sie verbindet, ist jedoch die Tatsache, dass sie alle auf dem dokumentarischen Stoff basieren. Der Verzicht auf rein fiktionale literarische Formen eröffnete den Autor_innen Zugang zu jenen thematischen Feldern, die (vor allem in der DDR) nicht literaturfähig waren und erlaubte es ihnen subjektive Ansichten und individuelle Lebensgeschichten von authentischen Personen zu präsentieren. Durch den Einsatz des Dokumentarischen sollte eine Realitätsnähe des Dargestellten bewiesen werden, wodurch die Texte einen faktualen Geltungsanspruch erhoben. Jedoch allein schon die Auswahl des dokumentarischen Materials und dessen Präsentationsform, wie auch die rhetorisch-stilistischen Eingriffe bewirkten, dass das Dokumentarische ins Fiktionale überging. Selbst die Entscheidung des Autors, auf eine nicht narrative journalistische Gattung des Interviews zu verzichten und das Erzählte in einer narrativen Form des Lebensberichts dem Lesepublikum zu präsentieren, erweckt Assoziationen zum fiktional-literarischen Erzählen. Und auch umgekehrt – der Einsatz des Dokumentarischen in einem durch das Fiktionale geprägten Text lässt an dessen Glaubwürdigkeit zweifeln. Im Fall der Dokumentarliteratur – eines Genres, welches sich stets an der Grenze zwischen dem Faktualen und dem Fiktiven bewegt, wird demnach ein Faktualitätspakt mir den Leser_innen geschlossen, „der erst dann sichtbar wird, wenn er verletzt wird“, dh. wenn das Fiktive allzu sehr in den Vordergrund rückt (vgl. Martinez 2009, S.185).



* Elżbieta Tomasi-Kapral, Dr., Universität Łódź, Institut für Germanische Philologie, Pomorska171/173, 90-236 Łódź. E-Mail: elzbieta.kapral@uni.lodz.pl




LITERATURVERZEICHNIS

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Fußnoten

  1. In der literaturwissenschaftlichen Forschung werden diese beiden Begriffe beinahe synonymisch verwendet, was durch ein ähnliches Verfahren bedingt ist, welches bei ihrer Entstehung eingesetzt wird und welches in der Regel auf zwei Schritten beruht: in der ersten Phase wird ein Interview mit dem/der vom Autor/von der Autorin gewählten Gesprächspartner/Gesprächspartnerin durchgeführt und in der Regel auf Tonband festgehalten. In der zweiten Phase erfolgt das Aufschreiben (das Protokollieren) der Interviews. Das infolge dieser Transkription entstandene Protokoll des Interviews bildet die Vorlage für den literarischen Text. Auf diese Wesensverwandtschaft der beiden Textsorten weisen u.a. Hübner (1973) und Schröder (1992) hin. Im vorliegenden Beitrag wird in Bezug auf die analysierten Texte die Genrebezeichnung Interviewliteratur verwendet, um eine mögliche begriffliche Verwirrung zu vermeiden.
  2. Die Interviewliteratur entstand in der DDR in den 1970er und 1980er Jahren. Diesem Genre wandten sich sowohl DDR-Schriftsteller_innen als auch DDR-Journalist_inen zu, die in ihm eine neue, vielversprechende Ausdrucksform sahen. Für die DDR-Schriftsteller_innen war gerade die Tatsache, dass es sich dabei um eine nichtfiktionale literarische Form handelte, ausschlaggebend. Sie konzentrierten sich auf die Darstellung der individuellen Erfahrungen und Ansichten von real-existierenden Menschen, griffen zu Alltagsthemen und beschrieben die den DDR-Leser_innen gut bekannten Alltagssorgen. Mehr Informationen zu Autor_innen und Themen der DDR-Interviewliteratur liefert der Beitrag von Eva Kaufmann (2009).
  3. Es handelt sich dabei um Themen, die wegen der in der DDR herrschenden Zensur in der (literarischen) Öffentlichkeit nicht behandelt werden durften, wie etwa Kritik der SED-Politik und des „real-existierenden“ Sozialismus. Darüber hinaus gehörten zu den in der DDR-Öffentlichkeit tabuisierten Themen solche, wie z. B.Identitätskrisen, Depression, Alkoholismus, Homosexualität, Selbstmord und viele andere gesellschaftsrelevante Themen, die in das SED-Propagandabild nicht passten und in denen die DDR-Kulturpolitik eine ernste Bedrohung für die Stabilität der politischen Ordnung sah.
  4. Diese Feststellung bezieht sich auf die ersten literarischen Reaktionen auf die politische Wende des Jahres 1989 in Deutschland, die in den 1990er Jahren publiziert wurden und aus der heutigen Perspektive in der literaturwissenschaftlichen Forschung unter den Begriff ‚Wendeliteratur‘ subsumiert werden, im Unterschied zu den später entstandenen Texten, die dem Bereich der Nachwendeliteratur zugeordnet werden. (vgl. Soldat 1997, S. 134)
  5. Es soll jedoch darauf hingewiesen werden, dass viele DDR-Schriftsteller_innen zu den inoffiziellen Stasi-Mitarbeitern gehörten und in der Zusammenarbeit mit dem sozialistischen Staat eine Chance auf Karriere oder auf Verbesserung eigener Lebenssituation in der DDR sahen. Diversen Aspekten der Situation der Schriftsteller_innen in der DDR wurde die Publikation von Joachim Walther Sicherheitsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik (1999) gewidmet.

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